Freispruch in «Estonia»-Prozess

Nach der schwersten europäischen Schiffskatastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg ist ein Grabfrieden über dem «Estonia»-Wrack verhängt worden. Deutschland hat sich einer Vereinbarung dazu nicht angeschlossen – und genau das hilft zwei Schweden nun vor Gericht.

Ihre aufsehenerregenden Funde an der untergegangenen Ostsee-Fähre «Estonia» haben die Dokumentarfilmer selbst überrascht.

«Oh, verdammt. Oh, verdammt! Das ist ja komplett eingedrückt da», sagt der Dokumentarfilmer Henrik Evertsson fassungslos, als ihm ein Tauchroboter den Blick auf ein großes Loch im Rumpf des Schiffswracks ermöglicht. Die Entdeckung seines Filmteams, die es später in einer Dokumentation enthüllt, liefert möglicherweise neue Erkenntnisse zu nichts Geringerem als dem schlimmsten Schiffsunglück der europäischen Nachkriegszeit. Das Problem: Laut Gesetz ist die Aktion verboten – nach schwedischem zumindest.

Trotzdem sind Evertsson und der Wrack-Experte Linus Andersson nun von einem schwedischen Gericht in einem Fall freigesprochen worden, in dem ihnen der Verstoß gegen den über der «Estonia» verhängten Grabfrieden vorgeworfen worden ist. Mit dem Einsatz eines Tauchroboters und dem Filmen des Wracks hätten die beiden zwar Handlungen ausgeführt, die nach dem sogenannten Estonia-Gesetz strafbar seien, teilte das Bezirksgericht von Göteborg am Montag mit. Die Angeklagten könnten aber nicht nach dem schwedischen Gesetz verurteilt werden, weil sie dies von einem unter deutscher Flagge fahrenden Schiff aus in internationalen Gewässern getan hätten.

Die beiden Männer waren Teil eines Filmteams gewesen, das im September 2019 einen Tauchroboter zur «Estonia» herabgelassen hatte. Dabei hatten sie unter anderem ein mehrere Meter großes Loch im Rumpf entdeckt, wie sie im September 2020 in einer Dokumentationsserie mit dem Titel «Estonia – fyndet som ändrar allt» (Estonia – Der Fund, der alles verändert) enthüllt hatten. Evertsson war Produktionsleiter, Andersson steuerte den Tauchroboter und wertete das Material aus.

Die Enthüllung hatte über die schwedischen Grenzen hinaus für Furore gesorgt, auch weil die Unglücksursache der «Estonia» bis heute nicht zweifelsfrei geklärt worden ist. Die schwedische Regierung hat nun gesetzliche Änderungen am Grabfrieden auf den Weg gebracht, damit Behörden die Funde bereits im Sommer genauer untersuchen können.

Der «Estonia»-Untergang gilt als größte Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegsgeschichte. Die Fähre war in der Nacht zum 28. September 1994 mit 989 Menschen an Bord auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm in internationalen Gewässern vor der finnischen Südküste gesunken. 852 Menschen starben, nur 137 überlebten. Als Ursache für den Untergang wurde im offiziellen Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1997 das abgerissene Bugvisier der Fähre benannt. Überlebende und Hinterbliebene fordern jedoch seit langem, dass die Untersuchungen wieder aufgenommen werden.

Weil der Großteil der Toten damals nicht geborgen werden konnte, steht das Wrack als Ruhestätte unter Schutz und darf nicht aufgesucht werden – das legt der im Jahr nach der Katastrophe verhängte Grabfrieden fest. Einer Vereinbarung dazu waren damals alle Ostsee-Anrainer beigetreten – bis auf Deutschland.

Genau auf diesen Aspekt wies auch das Göteborger Gericht hin. Nach Einschätzung der Richter lässt sich das Vorgehen nämlich nicht nach dem schwedischen Estonia-Gesetz bestrafen, da Deutschland nicht an die zwischen Estland, Finnland und Schweden getroffene Vereinbarung zum Grabfrieden gebunden ist. Das deutsche Schiff werde als deutsches Territorium betrachtet, stellte das Gericht in seinem Urteil fest.

Es ist das erste Mal, dass das Estonia-Gesetz auf den juristischen Prüfstand gekommen ist. In Schweden rechnet man damit, dass gegen das Urteil Berufung eingelegt wird – laut Gericht ist das bis zum 1. März möglich. Die zuständige Staatsanwältin Helene Gestrin sagte der Zeitung «Dagens Nyheter», sie wolle das Urteil in Ruhe durchgehen, ehe sie einen Entschluss dazu fasse. Sie hatte während des Prozesses Bewährungs- und Geldstrafen für die beiden Angeklagten gefordert.

Evertsson und Andersson hatten ein gesetzwidriges Verhalten abgestritten. Sie wiesen darauf hin, dass der Unglücksort in internationalen Gewässern liege und sie von Deutschland aus mit dem deutschen Schiff «Ernst Reuter» dorthin gelangt seien. Sie beteuerten, dass sie niemals gegen den Grabfrieden hätten verstoßen wollen. Es ging ihnen ausschließlich darum, mit Zustimmung der Angehörigen der «Estonia»-Opfer neue Erkenntnisse zu sammeln.

Nach dem Urteil zeigten sich beide sichtlich erleichtert. «Das fühlt sich natürlich schön an», sagte Evertsson dem Sender SVT. «Wir haben ja eigentlich dreimal unterstrichen, dass wir durch die Untersuchung keine Straftat begangen haben.» Es scheine so, dass das Gericht auf diese Einwände gehört habe. Andersson sagte, es sei ein unbehagliches Gefühl gewesen, dass es zu einer Verurteilung hätte kommen können. «Ich hoffe, dass das hier das Ende dieses Prozesses ist.»

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