EU-Gipfel ringt um gemeinsame Corona-Linie

Beim Impfen hinken die EU-Staaten anderen Ländern wie Israel und den USA hinterher. Und auch der jüngste Streit um geschlossene Grenzen bereitet in der EU schlechte Stimmung – Alleingänge drohen.

Wenige Monate vor der Sommersaison ist noch kein gemeinsamer EU-Impfpass mit Vorteilen für Corona-Geimpfte in Sicht. Kanzlerin Angela Merkel und ihre Kollegen berieten beim EU-Gipfel am Donnerstag über ein solches Zertifikat, doch gingen die Vorstellungen noch weit auseinander.

Merkel äußerte Bedenken, ihr österreichischer Kollege Sebastian Kurz machte Druck. Uneins sind sich die EU-Staaten auch über verschärfte Einreiseregeln, wie sie Deutschland eingeführt hat. An einem Strang wollen alle 27 aber bei der Beschleunigung der Impfungen und beim Abbremsen gefürchteter Virusvarianten ziehen. EU-Behörden ermitteln unterdessen wegen dubioser Impfstoff-Angebote in Milliardenhöhe.

Ein digitaler grüner Pass für Geimpfte, Getestete und Genesene wäre der richtige Schritt, ein großes Stück Normalität zurückzugewinnen, sagte Kurz am Donnerstag. Man wolle nicht im «Dauerlockdown» verharren. «Wir wollen, dass Menschen wieder Veranstaltungen, Gastronomie, Kultur, Sport und vieles andere mehr genießen und erleben können.» Vorbild für die Lösung sei Israel, wo Personen mit Impf-Nachweis zum Beispiel wieder Fitness-Studios nutzen dürften. Kurz‘ bulgarischer Kollege Boiko Borissow äußerte sich ähnlich. Man habe den Vorschlag mit Österreich, Griechenland und anderen Staaten abgestimmt.

Griechenland und Zypern haben schon jetzt Vereinbarungen mit Israel über die künftige Einreise von Geimpften geschlossen. Manche EU-Staaten wie Polen und Rumänien gewähren Geimpften bereits Vorteile, etwa bei der Einreise.

Dabei ist die Absprache auf EU-Ebene noch lange nicht so weit. Bislang haben sich die 27 EU-Staaten nur darauf geeinigt, dass es einen gegenseitig anerkannten Impf-Nachweis geben soll. Angedacht sind eine Datenbank zur Registrierung der Impfungen und ein personalisierter QR-Code für Geimpfte. Deutschland, Frankreich und andere haben jedoch Bedenken, Vorteile an das Dokument zu knüpfen – unter anderem weil unklar ist, ob Geimpfte das Virus weitergeben.

«Solange die Zahl der Geimpften noch so viel kleiner ist als die derjenigen, die auf die Impfung warten, sollte der Staat beide Gruppen nicht unterschiedlich behandeln», sagte Merkel der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».

Kurz dagegen brachte einen nationalen Alleingang ins Spiel, falls es mit der EU-Lösung nichts wird: «Wenn es keine europäische Lösung gibt, dann müssen wir dieses Projekt national umsetzen.» EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen mahnte Fortschritt an. Die EU-Staaten müssten einen gemeinsamen Ansatz finden, da der Sommer näher komme. Zuletzt hatte sie die Debatte als verfrüht bezeichnet.

Rückenwind bekommen Kurz und die anderen Impfpass-Befürworter von der Reisebranche: 14 europäische Verbände der Luftfahrt- und Tourismusindustrie forderten am Donnerstag, dass Geimpfte von Tests, Quarantänen und anderen Einschränkungen befreit werden sollten. Hunderttausende Arbeitsplätze seien in Gefahr, sagte der Präsident der Vereinigung Cockpit, Markus Wahl. «Wenn die EU künftig die notwendigen Restriktionen umfassend koordiniert und damit so gering wie möglich hält, können wir unsere Branche wiederbeleben.»

Derzeit gibt es beim Reisen in der EU allerdings viele Hürden. Eigentlich hatten sich die EU-Staaten vor einigen Wochen auf Empfehlungen für ein einheitliches Vorgehen an den Grenzen geeinigt. Deutschland und andere gehen jedoch darüber hinaus. Bei der EU-Kommission stößt das auf Kritik, weil Pendler und wichtige Waren an den Grenzen aufgehalten werden und der Binnenmarkt leiden könnten. Auch der Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau äußerte sich kritisch: «Es ist sehr ärgerlich und auch nicht solidarisch, dass einige Staaten diese Absprachen einfach über Bord werfen.»

Topthema bei dem Gipfel war, mehr Tempo bei den Impfungen zu gewinnen und den Impfstoffmangel zu beheben. Die Staats- und Regierungschefs wollten über eine schnellere Zulassung der Mittel beraten, Produktion und Lieferungen sollen gesteigert werden. Bis Ende Februar sollen EU-weit 51,5 Millionen Impfstoffdosen ausgeliefert werden. Gut 29 Millionen Dosen wurden bislang in den 27 Staaten verabreicht, wie von der Leyen den Staats- und Regierungschefs nach Angaben aus EU-Kreisen sagte. Ziel ist, dass bis Ende Sommer 70 Prozent der Erwachsenen geimpft sind.

Auch die fragwürdigen Impfstoff-Angebote sollten Thema sein. Nach Erkenntnissen von EU-Ermittlern haben Regierungen in aller Welt insgesamt 400 Millionen Dosen im Wert von drei Milliarden Euro angeboten bekommen, die nicht direkt von den Herstellern kommen. «Wir nennen das Geisterimpfstoffe, also irgendwelche mehr oder weniger obskuren Angebote, die auch schon an viele Staats- und Regierungschefs wohl gegangen sind», hieß es aus EU-Kreisen. Bei den Angeboten wisse man nicht genau, ob es sich um echten Impfstoff handele. Es könne auch «Salzwasser in kleinen Fläschchen» sein.

Für Freitag ist eine weitere Gipfel-Videokonferenz zu außen- und sicherheitspolitischen Themen angesetzt.

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