Joachim Löw schlenderte gerade mit seinem Rollkoffer den kurzen Weg vom Leipziger Bahnhof hinüber zum Teamhotel, da setzte Oliver Bierhoff zu einer inbrünstigen Klagerede über die schlechte Stimmung rund um die junge deutsche Fußball-Nationalmannschaft an.
Mehr als 15 Minuten monierte der DFB-Direktor bei der digitalen Pressekonferenz in einem Monolog noch vor der ersten Frage eine aus seiner Sicht falsche «Tonalität» und forderte die Rückkehr zu einem «positiven Spirit» in der öffentlichen Betrachtung der DFB-Auswahl.
Auf dem steinigen Weg zur EM 2021 verlangte Bierhoff in bislang nicht gekannter Intensität mehr Vertrauen für den noch längst nicht beendeten Umbruch nach dem WM-Desaster vor gut zwei Jahren ein. Und er verteidigte zum x-ten Male die Haltung von Bundestrainer Löw zu den Personalien Mats Hummels, Jerôme Boateng und Thomas Müller.
«Wir sind in einer herausgehobenen Position und verdienen viel Geld. Aber es sind Menschen. Es ist eine Wolke über der Mannschaft, die kämpft, die arbeitet», klagte Bierhoff am Montag in Leipzig. Der ehemalige Stürmerstar sprach von «Anspannung» und «Frust» im Team über die zuletzt mäßigen Resultate. Doch die Vorwürfe an die Generation um Serge Gnabry, Leon Goretzka oder den verletzt fehlenden Joshua Kimmich seien unverhältnismäßig. «Sie stellen sich und gehen nicht den bequemen Weg», sagte Bierhoff. «Diese Mannschaft will ein neues Bild einer Nationalmannschaft angehen», warb er.
Mit Kimmich habe er nach dessen Knie-OP am Sonntag schon telefoniert. Dessen Stimme sei «stark und sehr zuversichtlich gewesen», berichtete Bierhoff. Er sprach auch von der großen Erleichterung, dass der Führungsspieler schon bei den ersten Länderspielen des EM-Jahres im März nach seiner Meniskusblessur rechtzeitig wieder zur Verfügung steht. Kimmich sei ein Musterbeispiel für den Willen der Mannschaft. «Er brennt darauf herzukommen. Er hat zwei Kinder zu Hause. Er könnte auch sagen, ich tue mir das nicht an», schilderte Bierhoff.
Vor dem Testspiel am Mittwoch (20.45 Uhr/RTL) in Leipzig gegen Tschechien und besonders mit Blick auf den Abschluss in der Nations League am Samstag gegen die Ukraine sowie drei Tage später in Spanien forderte Bierhoff nach vier Unentschieden und neun Gegentoren in den vergangenen fünf Partien aber auch eine sportliche Antwort.
«Es geht nur über Ergebnisse auf dem Platz. Da müssen wir leisten, da müssen wir da sein auf den Punkt», forderte er. Die Mannschaft müsse in «Alarmstellung» sein. Der weiter mögliche Gruppensieg in der Nations League könne ein Signal sein: «Es wird einen Schub geben, es würde Sicherheit geben.» Eines Tages werde die neuformierte Auswahl das «Vertrauen zurückzahlen», versprach Bierhoff. «Sie haben noch nicht die emotionalen Momente aufbauen können. Einsatz, Leidenschaft und Herz ist bei den Jungen da.»
Auch Löw, der vor seinem Gang in die Hotel-Lobby noch freundlich mit Mund-Nasen-Schutz für die Kameras posierte, sieht zum Ende des so schwierigen Corona-Jahres noch viel Arbeit auf sich zukommen. «Wir sind auf einem guten Weg. Aber wir haben auch noch ein ganzes Stück vor uns, wenn wir dahin kommen wollen, dass wir bei der EM wieder ein ernsthafter Konkurrent für alle sind», sagte der Bundestrainer in einem Interview dem «Sportbuzzer».
Bierhoff verglich die aktuelle Auswahl, in der nach der Absage von Kimmich alle außer den Ex-Weltmeistern Toni Kroos (100) und Manuel Neuer (94) noch keine 40 Länderspiele absolviert haben, mit eigenen Kindern. Man wolle ihnen im Lebenslauf jede Schwierigkeit ersparen. «Aber eigentlich musst du ihnen Schwierigkeiten wünschen, sonst können sie nicht wachsen», sprach Bierhoff metaphorisch. Dennoch sollte künftig der öffentliche Fokus darauf liegen: «Was wird erreicht – und nicht, was wird nicht erreicht.»
Nahezu unvermeidlich bezog Bierhoff auch Stellung zur Dauerdebatte um eine Rückkehr von Hummels, Boateng und Müller. Dabei brachte er aus eigener Erfahrung einen anderen Aspekt ins Spiel. «Wenn du so verdiente Nationalspieler zurückholst, musst du einen gewissen Umgang voraussetzten. Diese Spieler wären dann natürlich gesetzt», sagte Bierhoff. Der 52-Jährige erinnerte an die Rückholaktion von Kapitän Lothar Matthäus zur WM 1998 durch Bundestrainer Berti Vogts. So was mache etwas mit einer Gruppe, mahnte Bierhoff, «weil das Alpha-Tiere sind». Bierhoffs Schlussfolgerung lautet: «Kein Handlungsbedarf».
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