Eisenbichlers Attacke auf den Tournee-Adler

Fast zwei Jahrzehnte! Das Warten auf den großen Tournee-Triumph scheint für die deutschen Skispringer nicht enden zu wollen. Auch in diesem Jahr hat das Team um Weltmeister Eisenbichler gute Chancen. Die Corona-Situation könnte dabei zum Vorteil werden.

In gespenstisch leeren Stadien will Überflieger Markus Eisenbichler den allerletzten Makel einer ganzen deutschen Skisprung-Generation beseitigen.

Nach einer herausragenden Dekade mit WM-Titeln, Olympiasiegen und sogar einem Gesamtweltcup-Triumph soll im Corona-Winter 2020/21 endlich gelingen, was seit Sven Hannawald vor 19 Jahren keinem Deutschen mehr vergönnt war: der Gesamtsieg bei der prestigeträchtigen Vierschanzentournee. «Wenn man die Tournee gewinnt, kann man das mit einem Olympia- oder WM-Sieg gleichstellen. Ich hoffe, dass ich sie gewinnen kann», sagte Eisenbichler, der das als amtierender Weltmeister bestens beurteilen kann.

Auf der Jagd nach dem goldenen Adler setzen Bundestrainer Stefan Horngacher und das deutsche Team, das bis zum Schluss um eine Starterlaubnis für den positiv auf Corona getesteten Skiflug-Weltmeisters Karl Geiger bangt, voll auf «Eisei». Der 29 Jahre alte Bayer soll die deutsche Tournee-Sehnsucht beenden und wenn möglich schon auf seiner Lieblingsschanze in Oberstdorf den Siegeszug von Norwegens Dauergewinner Halvor Egner Granerud stoppen.

«Ich muss auf mein Gefühl hören und mich nicht verrückt machen lassen, bloß weil der fünf Mal am Stück gewonnen hat. Irgendwann fängt er auch zum Überlegen an», stichelte Eisenbichler gegen den absoluten Topfavoriten. Schon die Qualifikation am Montag (16.30 Uhr/ZDF und Eurosport) könnte eine erste Antwort auf die Frage geben, wer besser durch die kurze Weihnachtspause gekommen ist.

Eisenbichler hat das Fest der Liebe in aller Ruhe im Chiemgau verbracht. Mit Mama, Papa und seiner Freundin genoss der heimatverbundene Skispringer ein paar entspannte Tage, bevor er ab diesem Montag knapp zwei Wochen komplett im Fokus der breiten Öffentlichkeit stehen dürfte.

Dass der letzte deutsche Tourneesieg schon fast zwei Jahrzehnte her ist, hilft dabei nicht. «Man läuft dem Ganzen so ein bisschen hinterher. Das macht es schwer. Die Voraussetzungen sind sicher sehr, sehr gut. Das waren sie aber in der Vergangenheit auch schon», sagte Martin Schmitt. Der Ex-Skispringer erlebte um die Jahrtausendwende einen einzigartigen Hype, der um ihn und Hannawald gemacht wurde.

Wie gut die deutschen Voraussetzungen sind, zeigen nicht nur die zwei Weltcup-Siege von Eisenbichler und das Skiflug-Gold von Geiger in diesem Winter, sondern auch die jüngere Vergangenheit. In den vergangenen fünf Tournee-Jahren schafften es fünf verschiedene Deutsche auf das Podest. Nur der Sieg blieb immer aus. Wie kann der Triumph klappen? «Die Frage stellen wir uns seit 19 Jahren. Es sind schon viele zweite und dritte Plätze passiert, leider noch nie der Sieg», sagte Bundestrainer Horngacher. Der Tiroler gab als klares Ziel aus, bei der Tournee um Siege und den Titel kämpfen zu wollen.

Ausgerechnet die Corona-Geisterkulisse könnte dabei zu einem Trumpf für die Adler des Deutschen Skiverbandes (DSV) werden. Wenn in Oberstdorf oder beim Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen über 20 000 ausgelassene Fans waren und eine Stimmung herrschte «wie in einem Fußballstadion» (Eisenbichler), bedeutete dies zwar einerseits einen Heimvorteil. Andererseits rief die Kulisse aber auch jede Menge Druck hervor, den die Rivalen aus Polen, Österreich oder Slowenien oft besser wegstecken konnten. Eisenbichler empfindet die fehlenden Fans zwar als «besonders schade» für die Deutschen, könnte im Kampf mit Granerud aber selbst davon profitieren.

Der extrem abgezockte und konstante Norweger könnte nun in die Rolle schlüpfen, die zuletzt Japans Ryoyu Kobayashi und die beiden Polen Kamil Stoch und Dawid Kubacki einnahmen: Partycrasher für das DSV-Team. Alljährlich hofften die Deutschen auf den ersten Coup seit dem historischen Vierfachsieg von Hannawald, doch dann wiederholten erst Stoch (2017/18) und dann Kobayashi (2018/19) dessen Kunststück. Werner Schuster, dem in elf Jahren als deutscher Bundestrainer kein Tournee-Titel gelang, sagt: «Wir sind immer an einem Überflieger gescheitert. Es bleibt den Deutschen nichts, als selbst den Überflieger zu stellen. Dann werden sie gewinnen.»

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