Ungarns Mühlen-Forscher im Ruhestand

Der Örvényeser Séd treibt nur noch das Mühlrad an

Vor einigen Tagen übergab der Mühlenverwalter István Wöller seinem Nachfolger die Schlüssel der Örvényeser Wassermühle. Der kundigste Forscher der ungarischen Mühlen ging mit 77 Jahren endgültig in den Ruhestand.

„Genosse Wöller, die Wahl fiel auf Sie! Sie werden durch das Komitat Veszprém reisen und Angaben über die alten Mühlen sammeln.“ Mit etwa diesen Worten begann die Geschichte im Jahre 1971, als mich der Leiter des Kombinats für Getreideabsatz und Mühlenindustrie des Komitats Veszprém für diese Aufgabe auswählte – erinnert sich der Verwalter der Örvényeser Wassermühle, einem Baudenkmal, an den Beginn. „Später erfuhr ich, dass es eine Anweisung von oben gab, dass in jedem Getreidekombinat ein Mitarbeiter für die Sammeltätigkeit abgestellt werden muss, schließlich stellte sich heraus, dass ich doch der einzige im ganzen Land war, der die Sache ernst genommen hatte.“

Herr Wöller war zu dieser Zeit der Leiter der Abteilung Wartung des Getreidekombinats und hatte praktisch keine Vorstellung von seiner neuen Aufgabe eines musealen Sammlers. Der 1929 geborene Mann aus dem Komitat Zala hatte seinerzeit Schmied und Schlosser gelernt, später sein Abitur gemacht, zuerst Chemie studiert, dann hatte er Offizier werden wollen und schließlich doch kein Diplom erworben. Sein erster Arbeitsplatz war die Veszprémer Mühle gewesen, doch eigentlich hat er sein ganzes Leben in der Mühlenindustrie gearbeitet, wenn auch nicht als Müller, sondern als Techniker und Instandsetzer.

„Meine Arbeit bestand darin, dass ich die Mühlen im Komitat aufsuchte und die verschiedenen Maschinen reparierte“, sagt Wöller István. „Nach einer Zeit wusste ich mehr über Mühlen als die, die dort arbeiteten, die mich als ehrenamtlichen Müller empfingen. Ich bekam Spaß daran, die Mühlen zu erforschen. Die Sache zog mich so in ihren Bann, dass ich mich auch am Wochenende aufs Motorrad setzte, mir den Fotoapparat umhängte und mich im Komitat auf den Weg machte, später dann im ganzen Land. Am Anfang kannte ich nicht einmal die Grundlagen der Forschungsarbeit, ich musste lernen, wie man in einem Archiv die Schriften findet, wie man Interviews macht und was für Fotos zu einer richtigen Dokumentation nötig sind.“

Beim Getreidekombinat musste István Wöller niemals über seine Arbeit Rechenschaft ablegen und nicht zeigen, was er während der Jahre über die Mühlen im Komitat Veszprém gesammelt hatte. So wurde die Forschungsarbeit niemals abgeschlossen. Herr Wöller erweitert seit 35 Jahren ununterbrochen seine Sammlung. In den vergangenen Jahrzehnten erschienen mehrere Publikationen, doch zahlreiche Studien blieben aus Geldmangel unveröffentlicht. Die schriftliche Dokumentation füllt in seinem Veszprémer Haus mehrere Schränke, der größte Teil der von ihm gesammelten Stücke ist in der Örvényeser Wassermühle ausgestellt.

„Das ist mein zweites Zuhause. Vor 18 Jahren, als ich in Rente ging, wurde ich der Verwalter der Mühle. Von Frühjahr bis Herbst ging ich nur zum Schlafen nach Hause“, sagt István Wöller. „Hier machte ich alles: Ich hielt die Führungen auf Ungarisch und Deutsch, ich machte sauber, weißte die Wände, reparierte die kaputten Teile, mähte das Gras, jagte die Mäuse und Siebenschläfer und ließ die Wasserräder laufen. Die Örvényeser Mühle ist die einzige im Land, in der die Arbeit der Müller in einer funktionstüchtigen Mühle gezeigt wird.“

Herr Wöller fügt leise hinzu, dass der Örvényeser Séd (Bach) zwar noch die Mühlräder antreibt, doch das Getreide nicht mehr mahlen könnte. Pro Sekunde fließen 15-20 Liter Wasser auf das Mühlrad mit vier Meter Durchmesser, zum Mahlen wären aber mindestens 120 Liter nötig. Vor einem Jahrhundert standen am Örvényeser Séd noch fünfzehn Wassermühlen, doch das in den 1950-70er Jahren ausgebaute Trinkwassernetz verringerte – wegen der artesischen Brunnen mit hoher Leistung – die Wasserführung des Baches erheblich.

Die Denkmal-Mühle suchen jährlich 15000-20000 Besucher auf. Seit 1. Juli führt nicht mehr István Wöller die Gäste durch die Örvényeser Mühle. Dennoch wird er mit seiner Vergangenheit nicht vollständig brechen. Gestützt auf die gesammelten Materialien plant er eine umfassende Geschichte der Mühlen zu schreiben.

„Ich bedaure nur, dass ich den Besuchern nicht mehr alles das erzählen kann, was ich im Kopf habe“, sagt der Mühlenverwalter. „Und ich werde den alten Müllern und ihren Nachfahren nicht mehr begegnen, die mich bis jetzt in der Wassermühle regelmäßig besuchten. Wissen Sie, nicht nur die Mühlen verschwanden in den letzten Jahrzehnten, auch das Müllergewerbe starb aus. Und jetzt gehe auch ich. Ich schaffe es körperlich nicht mehr. Aber manchmal komme ich zurück. Nur so, um das Rauschen der Mühle zu hören.“

In Ungarn wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fast 25.000 Mühlen registriert. Die Mehrzahl waren Wassermühlen, im Komitat Veszprém gab es vor 100 Jahren noch 470 wasserbetriebene Mühlen. Am Örvényeser Séd standen schon im 11. Jahrhundert von der Tihanyer Benediktinerabtei betriebene Wassermühlen, die die Müller in der Regel auf drei Jahre pachten konnten. Mit der Entwicklung der Mühlentechnologie veralteten im vergangenen Jahrhundert die mit Wasser und Wind betriebenen Mühlen, die meisten verfielen. Doch jetzt sinkt auch die Zahl der modernen Mühlen: In Ungarn waren im Jahre 2004 noch 115, im vergangenen Jahr nur noch 96 Mühlen in Betrieb. Im Komitat Veszprém gab es zur Wendezeit noch fünf Mühlen, heute wird nur noch die Veszprémer Mühle betrieben.

(Quelle: István Wöller)