Diskussion um stille Hauptversammlungen in Corona-Zeiten

Viele Aktionäre nutzen Hauptversammlungen zur Abrechnung mit dem Management. Die Pandemie ließ sie verstummen: Es gab fast nur Veranstaltungen im Internet. Aktionärsvertreter sehen das kritisch.

Proteste vor der Halle, lautstarke Kritik von Aktionären, Sitzungsmarathon – all dies ist Vorständen deutscher Großkonzerne im Corona-Jahr 2020 weitgehend erspart geblieben.

Reihenweise verlagerten die Unternehmen wegen der Pandemie ihre Hauptversammlungen komplett ins Internet. Weil die Lage unsicher bleibt, verlängerte die Bundesregierung die Sonderregelung für virtuelle Aktionärstreffen bis Ende 2021. Unumstritten ist das nicht.

Die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW) und die europäische Anlegerschutzvereinigung Better Finance haben analysiert, wie es mit virtuellen Hauptversammlungen in Europa funktioniert hat – und was das für Aktionärstreffen in einer Zeit nach Corona bedeutet. Ihr Fazit ist eindeutig: Es braucht eine Kombination von Präsenzveranstaltung und Online-Format.

Warum sind Hauptversammlungen eigentlich wichtig?

Die Hauptversammlung – kurz HV – ist neben Vorstand und Aufsichtsrat das wichtigste Entscheidungsgremium einer Aktiengesellschaft. Einmal im Jahr haben Aktionäre Gelegenheit, der Führung ihres Unternehmens persönlich die Meinung zu sagen. Zudem treffen die Anteilseigner wichtige Entscheidungen: Die Hauptversammlung stimmt zum Beispiel über die Ausschüttung der Dividende, mögliche Kapitalerhöhungen oder Wahlen zum Aufsichtsrat ab.

Welche Sonderregelungen gelten wegen der Corona-Pandemie?

Normalerweise müssen Vorstand, Aufsichtsrat und Eigentümer eines Unternehmens physisch zusammenkommen, um Beschlüsse zu fassen. So schreibt es das deutsche Aktiengesetz vor. Doch weil bei solchen Versammlungen in der Regel mehrere Tausend Menschen zusammenkommen, erlaubte der Gesetzgeber im Corona-Jahr 2020 Aktiengesellschaften in Deutschland «virtuelle Hauptversammlungen» ohne Satzungsänderung.

Wie wurde das genutzt?

Von den 30 Konzernen im Deutschen Aktienindex wählten nach Angaben des Deutschen Aktieninstituts 28 den digitalen Weg für ihre diesjährige Hauptversammlung. Die anderen beiden Dax-Unternehmen hatten bereits im Februar Präsenzversammlungen abgehalten – noch bevor die Corona-Krise in Deutschland voll durchschlug. Der Pharmariese Bayer, der am 28. April als erster Dax-Konzern eine Hauptversammlung komplett online durchführte, zog ein gemischtes Fazit: Zwar sei die virtuelle Hauptversammlung deutlich günstiger gewesen – die Kosten lägen zwischen einem Drittel und einem Viertel der üblichen Summe. Die kurzfristige Organisation des neuen Formats sei aber gleichwohl ein «Kraftakt» und eine «Mammutaufgabe» gewesen.

Welche Regelungen gelten für 2021?

Auch im gesamten nächsten Jahr dürfen Unternehmen, Vereine und Stiftungen in Deutschland auf Präsenzversammlungen verzichten. Die Bundesregierung verlängerte die ursprünglich bis Ende 2020 geltende Sonderregelung um ein ganzes Jahr. «Es ist nicht auszuschließen, dass im Jahr 2021 weitere Wellen der Pandemie auftreten, Einschränkungen fortbestehen oder es gar erneut zu weitergehenden Einschränkungen kommen wird», begründete das Bundesjustizministerium.

Gibt es Kritik an dem Verfahren?

Die Aktionärsvereinigung DSW bezeichnete die reine Online-HV im Frühjahr als «zeitlich begrenzte Notlösung». Die «Beschneidung der Aktionärsrechte, etwa was das Fragerecht angeht oder die Möglichkeit, Beschlüsse gerichtlich anzufechten» sei «kritisch zu bewerten», befand DSW-Hauptgeschäftsführer Marc Tüngler. Der Bundesverband Investment und Asset Management (BVI) urteilte: «In der Hauptversammlungssaison 2020 gab es fundamentale Einschränkungen der Aktionärsrechte.» Die Hauptversammlung «als oberstes Kontrollorgan und Sprachrohr der Aktionäre» habe «aufgrund der Covid-19-Notgesetzgebung massiv gelitten».

Wurden die Aktionäre gar nicht beteiligt?

Die Anteilseigner konnten durchaus vorab Fragen einreichen, doch zu Wort kamen sie in den Online-HVs nicht. Um die Veranstaltung zumindest etwas aufzulockern, ließ die Deutsche Bank eine Moderatorin die Fragen der Aktionäre vortragen. Der Fondsverband BVI betonte, es sei wichtig, dass Anteilseigner sich in einer Aussprache äußern könnten: «Die Ausübung des Rederechts muss deshalb auch in der virtuellen Hauptversammlung möglich sein.»

Gibt es nicht auch Vorteile digitaler Hauptversammlungen?

Als Ergänzung zu Präsenzveranstaltung kann sich Jens Wilhelm, Vorstand der Fondsgesellschaft Union Investment, digitale Kanäle auch in einer Zeit nach der Pandemie vorstellen. Es mache «durchaus Sinn, zukünftig online mehr Aktionären die Teilnahme an der Hauptversammlung zu ermöglichen», befand der Manager im Frühjahr.

Was fordern Aktionärsvertreter?

Die Sonderregelungen hätten in Zeiten der Pandemie ihre Berechtigung gehabt, argumentiert der Chef von Better Finance, Guillaume Prache. In Zukunft müssten Hauptversammlungen zu einem Format zurückkehren, das «den Aktionären ermöglicht, alle ihre Rechte unabhängig von der Art ihrer Teilnahme auszuüben, einschließlich des Rechts, während der Hauptversammlung Fragen zu stellen und abzustimmen nachdem sie die Antworten von Vorstand und Aufsichtsrat gehört haben».

Und was wollen die Aktionäre?

Die meisten Aktionäre in Europa wünschen sich der am Dienstag vorgestellten Studie zufolge eine Mischung aus Präsenzveranstaltung und Online-Format. Entscheidend sei dabei, dass die Anteilseigner «sicher sein können, dass sie gleichbehandelt werden, unabhängig davon, welche Art der Beteiligung an der HV sie wählen, sei es nun persönlich oder virtuell», betonte die stellvertretende DSW-Hauptgeschäftsführerin Jella Benner-Heinacher.

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