Brüssel kontert Kritik an Impfstoffbestellung

Der Unmut über die Coronapolitik in Europa wächst. Mehrere EU-Staaten fordern, dass die Union die Verteilung der Impfstoffe erneut anpackt. Brüssel räumt Fehler ein, sieht aber die Verantwortung anderswo.

Die EU-Kommission kontert Kritik einiger Mitgliedsländer an angeblich ungerechter Verteilung von Corona-Impfstoffen.

Dass manche EU-Länder mehr als die ihnen zustehende Quote erhalten hätten, sei «nicht auf einen Willkürakt Brüssels zurückzuführen», sagte EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn. Manche Länder hätten ihre Kontingente voll ausgenutzt und andere eben nicht, sagte der Österreicher den «Salzburger Nachrichten» und «Oberösterreichischen Nachrichten» (Montag). Außerdem hätten manche Länder auf den billigeren Impfstoff von Astrazeneca gesetzt und seien jetzt von den Lieferproblemen des Herstellers betroffen.

Allerdings räumte EU-Kommissionsvize Frans Timmermans Versäumnisse ein. «Es stimmt, dass bei der Bestellung der Impfstoffe sowohl in Brüssel als auch in den Mitgliedstaaten Fehler gemacht wurden», sagte er dem «Tagesspiegel am Sonntag». Er fügte hinzu: «Ich bin bereit, am Ende der Pandemie eine Bilanz zu ziehen. Dann können wir ja sehen, was wir falsch und was wir richtig gemacht haben.»

Österreich und fünf andere EU-Staaten hatten zuvor die Bestellpolitik Brüssels kritisiert und auf hoher Ebene Gespräche in der Union über eine gerechtere Verteilung der Corona-Impfdosen verlangt. Das derzeitige Bestellsystem würde «bis zum Sommer riesige Ungleichheiten unter Mitgliedsstaaten schaffen und vertiefen», schrieben die Regierungschefs von Österreich, Bulgarien, Lettland, Slowenien und Tschechien an den EU-Ratspräsidenten Charles Michel und die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Kroatien schloss sich dem Vorstoß am Samstag an.

Der Vizechef der FDP-Bundestagsfraktion Michael Theurer erklärte, von der Leyen, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Gesundheitsminister Jens Spahn sollten Timmermans Beispiel folgen und «ihr eigenes Versagen unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft bei der Impfstoff-Beschaffung genauso klar zugeben». Das wäre «ein zumindest erster Schritt, um aus diesen historischen Fehlern für die Zukunft zu lernen».

Timmermans erklärte, ein europäisches Vorgehen sei «auch im Interesse der reicheren Staaten» wie Deutschland. Jetzt gehe es erstmal darum, «dass ganz Europa Impfstoff bekommt». Die EU-Kommission hat von den vier in der EU zugelassenen Corona-Impfstoffen insgesamt mindestens 1,4 Milliarden Dosen für die rund 450 Millionen EU-Bürger geordert. Allerdings wird nicht wie erwartet geliefert und der Kommission werden zögerliches Handeln, strategische Fehler bei der Bestellung und ein ungerechtes Verteilsystem vorgeworfen.

Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz (ÖVP) hatte am Freitag beklagt, dass Impfdosen nicht anteilig auf die EU-Staaten aufgeteilt würden und es zusätzliche Lieferverträge durch nicht transparente Verhandlungen in einer EU-Steuerungsgruppe gebe. Nach Angaben der EU-Kommission kann es zu Verschiebungen kommen, wenn nicht alle Länder gemäß ihrem Anteil bestellen. Nicht genutzte Kontingente könnten dann auf andere Mitgliedstaaten aufgeteilt werden. Laut Hahns Parteikollegen Kurz haben zum Beispiel die Niederlande und Dänemark Zugang zu wesentlich mehr Impfstoff pro Kopf als Bulgarien oder Kroatien.

Die Niederlande und Malta wiesen die Wiener Vorwürfe zurück. Maltas Gesundheitsminister Chris Fearne sagte, die Impfstoffe für sein Land seien über den EU-Mechanismus beschafft worden. Das niederländische Gesundheitsministerium erklärte der dpa: «Wir halten uns an die Absprachen.» Die Niederlande nutzten den Spielraum aber «maximal» aus und übernähmen ein Kontingent, wenn ein anderes Land darauf verzichte. Die Niederlande hatten als letztes EU-Land die Impfkampagne begonnen, holen aber inzwischen auf.

Zu Engpässen in einigen Ländern trägt auch die Verunsicherung wegen des Impfstoffes von Astrazeneca bei. Am Sonntag empfahl die Impfkommission Irlands ein Aussetzen der Impfungen mit dem Präparat des britisch-schwedischen Herstellers, bis Berichte aus Norwegen über vier Fälle schwerer Blutgerinnsel nach Verabreichung des Mittels geprüft seien. Die Europäische Arzneimittelbehörde EMA erklärte allerdings, dass es keine auffällige Häufung von Thrombosen im zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung gebe und dass der Nutzen der Verimpfung des Astrazeneca-Mittels größer sei als die Risiken. Astrazeneca selbst wies nach einer Analyse von Impfdaten erneut Sorgen über die Sicherheit seines Corona-Impfstoffes zurück.

In Italien wurde die Verabreichung einer bestimmten Charge des Impfstoffes nach «schwerwiegenden unerwünschten Ereignissen» vorsichtshalber gestoppt. Zuvor hatten schon andere Länder das Mittel beziehungsweise eine Charge von Astrazeneca vorsorglich vom Markt genommen. Dabei wurde stets betont, dass ein Zusammenhang von Komplikationen mit dem Mittel nicht erwiesen sei. Andere Länder verimpfen das Mittel weiter.

Ein weiteres Problem ist die Lieferfähigkeit von Astrazeneca. Am Freitag hatte der Konzern angekündigt, statt 220 Millionen nur 100 Millionen Dosen bis zur Jahresmitte an die EU-Staaten liefern zu können. Mehrere deutsche Bundesländer ziehen daraus Konsequenzen. Thüringen stoppte die Terminvergabe für Impfungen und verschob den geplanten Start von Impfungen bei Hausärzten. Sachsen-Anhalt stellt die Impfungen von Polizisten zurück. In Berlin werden neue Impftermine gestreckt.

Der EVP-Fraktionschef Manfred Weber (CSU) sagte der «Welt am Sonntag», solange Astrazeneca seine Lieferzusagen nicht erfülle, «sollte die EU einen grundsätzlichen Exportstopp von in der EU produzierten Impfstoffdosen des Unternehmens verhängen». Denn es entstehe «der Eindruck, dass andere Länder gegenüber der EU bevorzugt» würden. Die EU hatte den USA und Großbritannien vorgeworfen, keinen im Land produzierten Impfstoff zu exportieren.

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