Nach der historischen Einigung auf einen Brexit-Handelspakt läuft die Analyse des Vertragswerks auf Hochtouren. Vor allem die Wirtschaft wird ganz genau hingucken. Vertreter aller Branchen begrüßten das Abkommen.
Von einem «Seufzer der Erleichterung» sprach die deutsch-britische Industrie- und Handelskammer (AHK) in London. Sorgen bereitet aber die sehr kurze Zeit, um sich durch das dicke Dokument zu wühlen. Kanzlerin Angela Merkel hatte das Abkommen bereits als historisch gewürdigt.
Die EU und Großbritannien hatten sich am Donnerstag nach monatelangem Ringen auf einen Handelspakt geeinigt. Auf EU-Seite kann der Vertrag allerdings nicht mehr rechtzeitig ratifiziert, sondern nur noch vorläufig angewendet werden. Um die nötigen Vorbereitungen zu treffen, berief die deutsche Ratspräsidentschaft deshalb für diesen Freitag eine Sitzung der EU-Botschafter ein. Auf britischer Seite hat die Regierung angekündigt, am 30. Dezember das Parlament zu befassen.
Der deutsche EU-Abgeordnete David McAllister äußerte sich im Gespräch mit der «Welt» optimistisch mit Blick auf die noch erwartete Ratifizierung des Deals im EU-Parlament. «Wir sind in der politischen Verantwortung, einen ungeregelten Übergang zu vermeiden und die negativen Folgen für die Bürger und Unternehmen so gering wie möglich zu halten», sagte der CDU-Politiker, der auch Brexit- Beauftragter des EU-Parlaments ist. Nach seinen Worten kann das Abkommen zunächst auch ohne Zustimmung des Parlaments gelten. Dies dürfe aber «kein Präzendenzfall für künftige Handelsabkommen sein».
AHK-Chef Ulrich Hoppe mahnte, die Wirtschaft müsse sich trotz des Deals auf «tiefgreifende Veränderungen» einstellen. «Ab dem ersten Tag nach der Brexit-Übergangsphase wird der Handel mit Gütern und Dienstleistungen teurer werden und in einigen Fällen deswegen unter Umständen sogar zum Erliegen kommen», sagte Hoppe. Der Hauptgeschäftsführer des Industrieverbands BDI, Joachim Lang, betonte: «Das Abkommen ist besser als kein Abkommen.» Allerdings bedeute der Pakt für die meisten Unternehmen dennoch zusätzliche Bürokratie und unnötige Grenzformalitäten.
«Viele Unternehmen werden gegen Regularien verstoßen, weil sie mit der neuen Regelflut noch nicht vertraut sind», sagte York-Alexander von Massenbach von der britischen Handelskammer in Deutschland der dpa. «Der Deal kommt für Unternehmen ausgesprochen spät. Sich in wenigen Tagen durch 2000 Seiten Text zu arbeiten und zu identifizieren, welche Konsequenzen drohen, ist schwer zu leisten», sagte er.
Der Vertrag soll die Beziehungen beider Seitenvon Januar 2021 an neu aufstellen. Wichtigster Punkt ist, Zölle zu vermeiden, unbegrenzten Handel in beide Richtungen zu erlauben und Reibungsverluste so weit wie möglich zu begrenzen. Großbritannien war bereits Ende Januar aus der EU ausgetreten, ist während einer Brexit-Übergangsphase bis Jahresende aber noch Mitglied im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Ohne Abkommen wären Zölle und aufwendigere Kontrollen notwendig geworden. Wirtschaftsvertreter auf beiden Seiten hattenfür diesen Fall vor Verwerfungen und dem Verlust Zehntausender Jobs gewarnt.
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen und der britische Premierminister Boris Johnson zeigten sich zufrieden. «Mit dem Abkommen schaffen wir die Grundlage für ein neues Kapitel in unseren Beziehungen», sagte Kanzlerin Merkel.
Auch britische Verbände waren erleichtert. «Eingedenk der Tatsache, dass vier Fünftel der britischen Lebensmittelimporte aus der EU stammen, wird die heutige Ankündigung den Verbrauchern in ganz Großbritannien einen kollektiven Seufzer der Erleichterung entlocken», sagte die Chefin des Handelsverbandes BRC, Helen Dickinson. Der Verband der Lebensmittel- und Getränkehersteller FDF warnte vor zu schnellem Jubel. «Wir werden mit den Feierlichkeiten warten, bis wir die Details geprüft haben», sagte FDF-Chef Ian Wright. Er kritisierte, der Branche blieben nur noch vier Arbeitstage, um sich auf neue Regeln einzustellen.
Vor allem die britische Wirtschaft wäre nach Einschätzung von Ökonomen schwer von einem sogenannten No-Deal-Brexit getroffen worden. Aber auch mit einem Abkommen droht mancher Branche ein deutliches Minus. «Durch den Brexit-Deal kann man den Absturz abbremsen, aber nach einer kurzen Erholung nach Corona wird England mit einem weiteren schleichenden Abbau seiner Autoindustrie rechnen müssen», sagte der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer.
Der Abschied Großbritanniens hat aber auch gravierende Auswirkungen auf anderen Lebensbereiche. So benötigen EU-Bürger von Oktober 2021 an einen Pass zur Einreise nach Großbritannien. Außerdem zieht sich die Regierung in London aus dem EU-Studentenaustauschprogramm Erasmus zurück. Zusätzliche Roaming-Gebühren wird es aber nicht geben, wie die deutschen Mobilfunkanbieter auf dpa-Anfrage mitteilten. «Bei uns bleibt Großbritannien in den EU-Tarifen, so wie jetzt etwa schon die Schweiz inkludiert ist», sagte ein Sprecher der Deutschen Telekom.
EU-Kommissionschefin von der Leyen nannte das Abkommen fair und ausgewogen. «Und es war ein Gebot der Vernunft für beide Seiten», fügte von der Leyen hinzu. Die EU habe sich in einer sehr guten Verhandlungsposition befunden und ihre Interessen voll gewahrt. Nun könne die Gemeinschaft den Brexit endlich hinter sich lassen.
In London äußerte sich Premierminister Johnson ähnlich. «Ich glaube, das ist ein guter Deal für ganz Europa», sagte er. Aus Sicht seiner Regierung ist mit dem Abkommen alles erreicht, was die britische Öffentlichkeit mit dem Brexit-Referendum von 2016 wollte. «Wir haben wieder Kontrolle über unser Geld, unsere Grenzen, unsere Gesetze, unseren Handel und unsere Fischgründe zurückgewonnen», erklärte die Regierung. Zugleich gewähre das Abkommen Zollfreiheit und unbegrenzte Exporte in die EU. Großbritannien hatte im Juni 2016 mit knapper Mehrheit für den Austritt aus der Europäischen Union gestimmt.
Zuletzt hatte die Zuspitzung der Corona-Pandemie in Großbritannien weiteren Druck aufgebaut. Nachdem eine mutierte Variante des Coronavirus entdeckt worden war, hatte Frankreich zeitweise seine Grenzen für Verkehr aus Großbritannien geschlossen. Deshalb stauten sich auf britischer Seite Tausende Lastwagen – aus Sicht von Kritikern ein Vorgeschmack auf die Lage bei einem No-Deal-Brexit.
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