Fünf Jahre Flüchtlingsdeal mit der Türkei

Der Abschluss des Flüchtlingsabkommens zwischen der EU und der Türkei liegt fünf Jahre zurück. Beide Seiten werfen sich immer wieder vor, die Vereinbarungen nicht zu erfüllen. Zeit für eine Bilanz.

Hunderttausende Flüchtlinge kamen 2016 in die Europäische Union: Unter massivem Druck handelte die EU den sogenannten Flüchtlingsdeal mit dem wichtigen Transitland Türkei aus. Fünf Jahre später kommen zwar deutlich weniger Migranten. Doch der Deal ist brüchig.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan schlug 2020 einen noch härteren Konfrontationskurs ein. Er befeuerte den Konflikt um Erdgas im östlichen Mittelmeer, erklärte die Grenze zu Griechenland für geöffnet und legte dann auch noch seinem französischen Kollegen Emmanuel Macron nahe, sich psychisch untersuchen zu lassen.

Seit einigen Wochen kommen allerdings eher versöhnliche Signale aus Ankara – was auch in Brüssel registriert wird: Geplante Sanktionen legten die EU-Staaten im Januar zunächst auf Eis. Beim Gipfel Ende März dürfte die EU über die künftigen Beziehungen beraten. Hat der Deal mit dem wankelmütigen Partner eine Zukunft?

GRENZSCHUTZ: Ankara verspricht in dem Abkommen, «alle erforderlichen Maßnahmen» zu ergreifen, um neue See- und Landrouten für illegale Migration von der Türkei in die EU zu verhindern. Dagegen verstieß die Türkei im Frühjahr 2020, als sie die Grenzen zu Griechenland zeitweise für offen erklärte. Trotzdem kamen weniger Menschen auf den griechischen Inseln an. 2019 waren es der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR zufolge knapp 60 000. Zum Vergleich: 2015 waren es rund 857 000. 2020 haben, auch wegen Corona, 9714 Menschen übergesetzt.

UMSIEDLUNG UND RÜCKNAHME: Die Türkei verpflichtet sich, jeden Migranten, der irregulär auf die griechischen Inseln gelangt und kein Asyl erhält, zurückzunehmen. Im Gegenzug will die EU für jeden rückgeführten Syrer einen anderen Syrer aus der Türkei aufnehmen. Das funktioniert jedoch kaum – unter anderem, weil die griechischen Behörden mit dem Bearbeiten der Asylanträge auf den Inseln nicht hinterherkamen und die juristischen Einsprüche der Asylsuchenden bei den ohnehin überlasteten Gerichten hängen blieben. Bis März 2021 schickte die EU rund 2740 Migranten zurück in die Türkei. Die EU-Staaten nahmen 28 621 Menschen auf – deutlich weniger als im Abkommen in Aussicht gestellt.

In der Corona-Krise rückten beide Seiten vom Abkommen ab: Die Türkei setzte die Rückübernahme von Migranten aus; die EU stoppte die Umsiedlung. Seit August nimmt die EU allerdings wieder Syrer auf. «Aber die Türkei hat die Rückführungen von den griechischen Inseln nicht wieder aufgenommen. Und das ist, was wir von ihnen erwarten», sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson jüngst.

GELD: Die Regierung in Ankara fordert regelmäßig mehr Geld. Abgemacht ist: Zur Versorgung der Menschen bekommt die Türkei sechs Milliarden Euro. Das Geld soll in Flüchtlingsprojekte fließen. Mehr als vier Milliarden Euro sind laut EU-Kommission bislang ausbezahlt. 2020 wurden weitere rund 500 Millionen Euro zugesagt. Und neue Hilfen sind möglich, wie der EU-Gipfel zuletzt festhielt.

VISAFREIHEIT: Die EU stellte der Türkei 2016 eine Abschaffung der Visumspflicht für türkische Staatsbürger in Aussicht. Daran sind allerdings 72 Bedingungen geknüpft. Die meisten davon hat Ankara erfüllt, doch vor allem eine Voraussetzung ist strittig: Die Änderung der Anti-Terror-Gesetze in der Türkei. Aus Erdogans Sicht können sie nicht entschärft werden, weil die Türkei sie vor allem nach dem Putschversuch von 2016 im Kampf gegen den Terror benötige. Geschieht dies nicht, dürfte es aber auch keine Visafreiheit geben.

AUSBAU DER ZOLLUNION: Davon würde die Türkei wirtschaftlich stark profitieren. Die Zollunion für weniger Handelshemmnisse zwischen der EU und der Türkei sollte modernisiert werden. Daraus wurde allerdings nichts. Unter anderem liegt das an der ungeklärten Zypern-Frage. Die Türkei hält den Norden Zyperns seit 1974 besetzt. Dort liegt die – nur von der Türkei anerkannte – Türkische Republik Nordzypern. Die gesamte Insel hingegen ist seit 2004 EU-Mitglied.

EU-BEITRITT: Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei laufen seit 2005. Im Abkommen heißt es, der Prozess solle neu belebt werden. Derzeit liegt er auf Eis. Manche EU-Staaten wollen sogar den Abbruch.

DEAL-UPDATE: Für beide Seiten hat der Deal Vorteile. Die EU kann sich schon seit Jahren nicht auf eine Reform der Asylpolitik einigen – solange scheinen Abkommen mit Drittstaaten eine willkommene Lösung. Die Türkei profitiert von der Unterstützung, mit der auch dauerhafte Strukturen zur Versorgung von Migranten geschaffen werden. Ein Großteil der Syrer will in der Türkei bleiben. Sollte Erdogan seinen versöhnlicheren Kurs beibehalten, stehen die Chancen nicht schlecht auf weitere Vereinbarungen. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell blieb Montag jedoch vage: Es müsse eine neue Vereinbarung dieser Art geben, sagte er.

Dass der türkische Präsident zuletzt weniger scharfe Töne anschlug, dürfte auch daran liegen, dass er mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump einen Verbündeten verloren hat. Deshalb wendet er sich wieder der EU zu.

SYRER UND SYRERINNEN IN DER TÜRKEI: Offiziell liegt die Zahl der syrischen Flüchtlinge in der Türkei bei 3,6 Millionen, tatsächlich dürften noch 1 bis 2 Millionen unregistrierte hinzukommen. Die meisten von ihnen arbeiten illegal, 2019 etwa hatten nur knapp über 30 000 der syrischen Geflüchteten eine Arbeitserlaubnis in der Türkei. Die Corona-Krise traf viele hart.

SITUATION AUF DEN GRIECHISCHEN INSELN: Besonders in diesem Punkt wird die Vereinbarung viel kritisiert. Das Aufnahmesystem für Migranten auf den griechischen Inseln sei «weitgehend dysfunktional», urteilt etwa Karoline Popp, eine wissenschaftliche Mitarbeiterin des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Die Lager seien seit Jahren überfüllt, Menschen lebten unter schlechten Bedingungen. Amnesty International nennt das Abkommen einen «erbärmlichen Fehler».

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