Auch am Balaton nehmen Großstädter an der Weinernte teil
Ungarn hat sieben Weinregionen, davon ist eine der bekanntesten die rund 32.000 Hektar umfassende Balaton-Weinregion, wo etwa auf einem Drittel der Fläche tatsächlich Reben angebaut werden. An der Weinregion haben die Komitate Somogy, Zala, Vas und Veszprém Anteil, weshalb Weinproduktion und Weingenuss einen vitalen Teil des regionalen Tourismus ausmachen. Rund um den Balaton wurden Reben bereits vor 2000 Jahren durch die Römer angebaut. Einzelne Ortschaften tragen noch in den Namen ihrer Straßen die Erinnerung an diese Wurzeln, z.B. die an vielen Stellen mit Pflastersteinen besetzte Römer-Straße (Római út) in Badacsony und Badacsonytördemic, an der sich viele Weintouristen und Biker erfreuen.
Die Balaton-Weinregion war im 19. Jahrhundert eine einheitliche Anbauregion. Heute kann sie in sechs Teilregionen unterteilt werden, alle mit unterschiedlichen Charakteristiken des Anbaus und der Weine selbst. Die wohl berühmtesten sind heute Badacsony und Balatonboglár, die wohl am meisten bekannten und getrunkenen Weine der Italienische Riesling (Olaszrizling) und der Pinot gris (Szürkebarát = Grauer Mönch). Aber auch die anderen Teilregionen, Balaton-felvidék (Balaton-Oberland), Balatonfüred–Csopak, Nagy-Somló (Groß-Somló) und Zala (Balaton-melléke / Nebenbalaton) haben gute Tropfen, vor allem Weißweine, anzubieten. Viele wissen, dass es sich lohnt, vor allem kleinere Anbauer aufzusuchen und ihre, oftmals nur bei der eigenen Kellerei angebotenen Weine zu probieren. Es gibt Anbieter, die gezielt solche Weintouren führen.
Tradition und Gemeinschaftssinn
Bei der Traubenlese oder „Herbsten“, wie sie auch genannt wird, spielen in Ungarn und so auch in der Balaton-Region die Gemeinschaft, das Gemeinschaftserlebnis eine große Rolle. Wer selbst keinen Wein mehr anbaut (nachdem im 19. Jahrhundert die Reben vor allem in klerikaler Hand waren, wurden in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts die Klein- und Kleinstparzellen der Hobbyanbauer im Familienbetrieb dominant), nimmt heute an der Weinlese bei Verwandten, Freunden und Bekannten teil. Die Arbeit findet bei schönem Wetter statt, geerntet wird manuell. Doch alle anfallenden Arbeiten, die Lese, das Pressen (zudem vor allem viele Reinigungsarbeiten gehören) und das Kochen für die Mannschaft sind dabei Tätigkeiten von gleichem Rang. Die Weinhügel und -berge hallen in der Zeit der Weinlese von der guten Laune der Winzer und ihrer Freunde wider, werden zu Orten von Festen, die bis zum späten Abend andauern. Die zu Gast geladenen werden mit gutem Essen und Pálinka (Schnaps), falls vorhanden mit Speisetrauben und gut gelauntem Beisammensein „entlohnt“. Auch Nachbarn gesellen sich gerne zu den feiernden Familien. Die Erinnerung an das Erlebnis hält lange an, verbindet und ist nicht zuletzt (wie die ganzjährigen Arbeiten im Weinberg) eine gesunde Tätigkeit im Freien, die viele, vor allem aus der älteren Generation fit hält. Wer keine Gelegenheit hat, sich an solch ein familiäres „Arbeitstreffen“ anzuschließen, besucht die Weinlese-Feste, die von fast jeder Ortschaft im September oder Oktober veranstaltet werden, gewinnt einen Einblick in heute noch lebendige Traditionen und erfährt nicht zuletzt auch, wie die diesjährige Ernte ausgefallen ist.
Sich wandelnde Gesellschaftsstruktur, neue Trends
Seit ein paar Jahren jedoch ist auch eine andere Erscheinung beobachtbar. Viele ehemalige Rebenbesitzer können ihre Grundstücke nicht mehr an ihre Kinder und Enkel vererben, die Bearbeitung überlassen, da diese ihren Lebensunterhalt anders bestreiten, was ihnen keine Zeit mehr lässt. Weinbau in diesen Maßstäben lohnt sich kaum, vor allem, wenn man von weitem anreisen muss. Eine andere Entwicklung – bald vielleicht schon ein Trend – ist der bewusste Miteinbezug von Großstädtern, die sonst im Asphaltdschungel höchstens einen Balkon oder im besten Fall ein Gründach bepflanzen.
Chuck und Sergej sind gerade mal für einen, zwar sehr langen Tag aus Budapest auf den Sankt Georg-Berg am nördlichen Seeufer gekommen, um Einblick in eine echte Weinlese zu gewinnen und gleich mit anzupacken. Der Betrieb, den sie sich über das Internet ausgesucht haben, liegt auf der Südwestseite des Hügels und ist kaum 1 Hektar groß. Die Arbeiten mit den insgesamt sechs verschiedenen, hier angebauten Rebsorten werden alle von Hand und nach „intelligenten“ Prinzipien verrichtet. Auf die Frage, was „intelligenter Weinbau“ bedeute lautet die Antwort: alles, was gesund, ökologisch, gleichzeitig sinnvoll ist. Wichtig z.B. ist minimaler Schwefeleinsatz und ja, auch mit Hightech-Methoden, jedoch ohne Öko- oder Bio-Zertifizierung. Es wird gewissenhaft auf Niederschlagsmenge und Sonnenstunden geachtet, diese und andere Daten werden mit genauen Methoden erfasst, auf wenige Dutzend Quadratmeter genau, die Pflege gilt den einzelnen Reben fast individuell. Die Lese der Rebsorten erfolgt separat, die Tage der Ernte, die unter anderem vom Zuckergehalt und pH-Wert der Trauben mitbestimmt werden, wurden sorgfältig ausgewählt.
Der bewährte Italienische (Riesling)
Bei Chucks und Sergejs Besuch steht die Ernte des Italienischen Rieslings an. Die Sorte stammt vermutlich aus Norditalien, worauf auch ihre Bezeichnung als „Welschriesling“ (Österreich) bzw. „Olaszrizling“ (Ungarn) hindeutet. Weder Chuck, noch Sergej haben je zuvor auf einem Weinberg mitgearbeitet. Chuck kommt aus Alaska, Sergej aus Sibirien. Beide arbeiten im IT-Bereich bei internationalen Firmen in Budapest und sind seit zehn, respektive zwanzig Jahren in Ungarn. Sie kennen sich von berufswegen und treffen zusammen mit ihren Partnern und Familien oftmals andere Ex-Patrioten. Ihnen gefällt das Land, doch wegen der Sprache ist es noch immer schwierig für sie, spontan mit Landsleuten in Kontakt zu kommen. Die Idee, mal bei einer Weinlese mitzuarbeiten, kam durch das Lesen von englischsprachigen Blogs über den Weinanbau und Weinverarbeitung am Balaton. Dem Einsatz ging Planung voraus und auch ein Abtasten dessen, was die beiden Großstädter wirklich interessieren würde. Ziel war, dass beide so viele Teile des Prozesses bewusst miterleben können, wie es an einem Tag nur möglich ist.
Die Arbeit beginnt mit Erklärungen über Reben, Terroir und Klima. Es steht eine dem Datum nach relativ frühe, jedoch Qualitätsernte bevor. Die Reben sind sehr schön, der Name der Art „Edle Weinrebe“ (Vitis vinifera) scheint in diesem Jahr besonders angebracht. Der ganze Weinleseprozess wird erklärt, wie auch der Keller gezeigt und der Pressvorgang erläutert. Dann geht es zu den Reben, an denen die richtige Handhabung der reifen Trauben und der Gartenschere vorgeführt wird.
Der Arbeitstag verläuft in guter Laune, nach und nach werden die mit den sorgfältig abgeschnittenen, vollkommen gesunden Trauben gefüllten Kunststoffeimer in den Presskeller geschafft, Reihe für Reihe wird der Rebberg erobert. Beim Mittagessen mit frischem Brot, Käse, hausgetrockneten Tomaten und Oliven wird das wunderschöne, Ruhe ausstrahlende Panorama des 1500 Hektar großen Badacsony-Weinanbaugebietes bewundert. Dass Wein in einem Nationalpark angebaut wird, ist für beide Besucher eine Besonderheit. Auch dies wird in Budapest bestimmt ein Thema werden.
Dass hier in der Region guter Wein gedeiht, ist wohl kein Wunder. Die Nähe des Wassers, der vulkanische Boden, das Kontinentalklima und durchschnittliche sommerliche Temperaturen von 25-27 °C geben den notwendigen Hintergrund für einen guten Ertrag. Auch dass von den 2000 Sonnenstunden pro Jahr die meisten auf den Juni fallen (ca. 10 Sonnenstunden pro Tag), hilft den Reben und begünstigt die Entwicklung eines hohen Zuckergehalts der Trauben. Nach den Wetter- und Klimaextremen der letzten Jahre, wie Sturm, Hagel und ausgiebige Trockenheit, durften wir uns alle dieses Jahr auf eine ganz besonders schöne Ernte mit gutem Ertrag freuen.
Ganzheitliches Erlebnis
Am späten Nachmittag wird gepresst. Die Presse wird handbetrieben, Ladung für Ladung werden die frischen Trauben gepresst, der Pressvorgang pro Ladung zweimal wiederholt, dabei die Erstpressung von der Zweiten sorgfältig getrennt. Am Abend sind über 350 Liter Traubensaft gepresst, alles mechanisch. Der Duft im Keller ist betörend und schwebt während den ganzen Reinigungsarbeiten der Utensilien im und vor dem Keller.
Bei der Abreise werden als Souvenir Speisetrauben mitgenommen und frisch gereifte Gartentomaten, etwas Muskelkater und natürlich die Erlebnisse. Für einige Weinflaschen der eigenen Ernte wird man im nächsten Jahr wiederkommen. Die während des Tages gehörten Informationen und der Gedanke „nun habe auch ich Wein geerntet“ sind erfüllend, so sind auch die gemeinsamen Gespräche über weit entfernte Kulturkreise. Erst lange nach der Abfahrt, noch immer mit dem Duft der Trauben in der Nase fällt es auf: es wurde am ganzen Tag kein einziges Wort über Politik gesprochen.
Barbara Sallee-Kereszturi, Humanökologin
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